Märchen und Mythen im Arbeitsrecht


Um das Arbeitsrecht ranken sich viele landläufig verbreitete Vorstellungen der Arbeitnehmer wie der Ar­beitgeber, die indes entweder ganz falsch oder doch zumindest irreführend verkürzt sind. Wir be­zeichen diese gern als "Märchen und Mythen", die wir auf den nachfolgenden Seiten richtigstellen.

Wir beginnen mit den spannenden Themen des angeblichen Abfindungsanspruchs bei Kündigungen und der Dauer der Entgeltfortzahlung bei Arbeitsunfähigkeit. Nach und nach werden wir über weitere Märchen berichten.

+++ Wer gekündigt wurde, hat Anspruch auf eine Abfindung +++


Wenn wir in Österreich wären, wäre das richtig. Dort nennt man das "Abfertigung". In Deutschland ist das nicht so einfach.

Einen allgemeinen gesetzlichen Abfindungsanspruch gibt es in Deutschland nicht. Dass dennoch viele Arbeit­nehmer vor dem Arbeitsgericht einen Abfindung erlangen, ist in aller Regel Folge einer Ver­gleiches, also einer Einigung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Rahmen eines Kündi­gungs­schutz­verfahrens. Dem müssen also beide Parteien zustimmen. Ohne Einigung gibt es nur "alles oder gar nichts": die Kündigung ist wirksam oder unwirksam.

Der Arbeitgeber wird nur dann eine Abfindung zu zahlen bereit sein, wenn er davon ausgehen muss, das Kündigungsschutzverfahren zu verlieren. Der Arbeitnehmer wird eine Abfindung nur annehmen wollen, wenn er damit rechnen muss, das Verfahren zu verlieren und dann wenigstens noch einen finan­ziellen Ausgleich für den Verlust seines Arbeitsplatzes erhalten möchte, oder wenn er sowieso nicht bei seinen bisherigen Arbeitgeber weiterarbeiten will. Da aber der Ausgang eines Kündigungs­schutzverfahrens regelmäßig ungewiss ist und sich das Verfahren über zwei Instanzen durchaus über zwei Jahre hinziehen kann, "teilen" sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer häufig das Risiko und schließen vor Gericht einen Abfindungsvergleich. Bei ausgewogenen Prozesschancen, also einen völlig ungewissen Ausgang des Verfahrens, wird dann häufig die Formel "pro Jahr der Betriebszugehörigkeit ein halbes Bruttomonatsentgelt" angewandt.

Ohne einen Vergleich vor dem Arbeitsgericht gibt es eine Abfindung nur in folgenden Fällen:

  • Zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat wurde ein Sozialplan abgeschlossen, der Abfindungen für die gekündigten Arbeitnehmer vorsieht. Das ist regelmäßig aber nur bei größeren be­trieblichen Umorganisationsmaßnahmen und Betriebsschließungen (sog. "Betriebs­änderung") der Fall, die zu Massenentlassungen führen und bei denen der Arbeitgeber mit seinem Betriebsrat zunächst einen sog. "Interessenausgleich" abschließen muss. Soetwas wird im Betrieb normalerweise aber auch allen Betroffenen mitgeteilt.
  • Der Arbeitgeber hat ein solche Betriebsänderung durchgeführt und zuvor noch nicht einmal versucht, mit seinen Betriebsrat einen Interessenausgleich abzuschließen oder er weicht von dem vereinbarten Interessenausgleich ab. Dann haben die Arbeitnehmer, die bspw. infolge der Betriebsänderung gekündigt wurden, einen sog. "Nachteilsausgleichanspruch" nach § 113 des Betriebsverfassungsgesetzes, der auf eine Abfindung hinausläuft.
  • Arbeitgeber oder Arbeitnehmer (oder auch beide) haben erfolgreich einen sog. "Auflösungs­an­trag" in einem Kündigungsschutzverfahren gestellt. Das ist in § 9 des Kündigungs­schutz­gesetzes ge­regelt. Stellt das Gericht fest, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst ist, ist jedoch dem Arbeitnehmer die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zuzumuten, so hat das Gericht auf Antrag des Arbeitnehmers das Arbeitsverhältnis aufzulösen und den Arbeit­geber zur Zahlung einer angemessenen Abfindung zu verurteilen. Die gleiche Entscheidung hat das Gericht auf Antrag des Arbeitgebers zu treffen, wenn Gründe vorliegen, die eine den Be­triebs­zwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht er­warten lassen. Diese Anträge aber sind keine "Selbstgänger" und haben nur in Aus­nahmefällen Erfolg.
  • Der Arbeitgeber bietet dem Arbeitnehmer mit einer betriebsbedingten Kündigung gleich mit dem Kündigungsschreiben an, eine Abfindung zu zahlen, wenn der Arbeitnehmer nicht gegen die Kündigung klagt. Das ist in § 1a des Kündigungs­schutz­gesetzes ge­regelt. Dann hat der Ar­beit­nehmer einen Anspruch auf die Abfindung. Die Höhe der Abfindung beträgt 0,5 Monats­ver­dienste für jedes Jahr des Bestehens des Arbeitsverhältnisses. Bei der Ermittlung der Dauer des Arbeits­ver­hältnisses ist ein Zeitraum von mehr als sechs Monaten auf ein volles Jahr aufzu­runden. Als "Monatsverdienst" gilt dabei 1/12 des regelmäßigen Jahreseinkommen.
  • Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben einen Aufhebungsvertrag abgeschlossen, der eine Abfindung vorsieht. Das führt übrigens keinesweg immer zu einer Sperrfrist beim Bezug des Arbeitslosengeldes oder gar zu einer Anrechnung der Abfindung auf das Arbeitlosengeld. Das ist wieder so ein Märchen, das unter Rechtsunkundigen gern erzählt wird.

Was für Arbeitgeber in Kündigungsfällen zu beachten ist, können Sie den auf unserer Website vorgehaltenen Merkblätten, insbesondere unserer Broschüre zum Kündigungsrecht entnehmen. Mustertexte für Kündigungen gibt es ⇒ hier, darunter auch ein Muster einer Kündigung nach § 1a KSchG, also der Kündigung mit dem Angebot, eine Abfindung zu zahlen.

 

+++ Nach jeder Erstbescheinigung habe ich für 6 Wochen Anspruch auf Krankenlohn +++


Nein, ganz falsch! Da gibt es nämlich einerseits den Grundsatz der Einheit des Verhinderungsfalls und anderseits die sog. Fortsetzungserkrankung.

Wenn während einer bereits bestehenden Arbeitsunfähigkeit eine neue, aber auf einem anderen Leiden beruhende Krankheit auftritt, die ebenfalls eine Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat, ist der gesetzliche Anspruch auf Entgeltfortzahlung dennoch auf 6 Wochen begrenzt. Der Umstand also, dass der die weitere Arbeitsunfähigkeit attestierende Arzt, insbesondere wenn zwischenzeitlich ein Arztwechsel eintrat und der neue Arzt nichts von der vorherigen Arbeitsunfähigkeit wusste, eine sog. Erstbescheinigung ausstellt, ändert daran nichts. Man spricht in diesem Fall von dem sog. „Grundsatz der Einheit des Verhinderungsfalls“. Das Bundesarbeitsgericht hat dies mit Urteil vom 11.12.2019 (Az. 5 AZR 505/18) nochmals deutlich hervorgehoben. Voraussetzung dafür, dass ein neuer Anspruch auf Entgeltfortzahlung für wiederum max. 6 Wochen entsteht, ist, dass die erste krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit bereits zu dem Zeitpunkt vollständig beendet war, zu dem die neue Erkrankung zur weiteren Arbeitsunfähigkeit führte.

Wichtig in diesem Zusammenhang: Folgt unmittelbar auf eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit eine neue Erstbescheinigung, so ist der Arbeitnehmer darlegungs- und beweispflichtig dafür, dass die vorherige Arbeitsunfähigkeit bereits im Zeitpunkt des Eintritts der weiteren Arbeitsverhinderung geendet hatte. Er reicht also nicht aus, wenn der Arbeitnehmer schlicht darauf verweist, AU-Bescheinigungen seiner Ärzte vorgelegt zu haben und seinem Arbeitgeber erklärt, dieser könne auch eine Auskunft der Krankenkasse einholen. Er ist vielmehr verpflichtet, dem Arbeitgeber auf Nachfrage mitzuteilen, wann die vorhergehende Arbeitsunfähigkeit endete und wann erstmals Symptome auftraten, die zu der erneuten Arbeitsunfähigkeit führten. In Zweifelsfällen ist er auch verpflichtet, seine Ärzte von der Schweigepflicht zu entbinden, damit deren ärztliche Stellungnahme eingeholt werden kann. Weigert er sich, diese Auskünfte zu erteilen, kann der Arbeitgeber die Entgeltfortzahlung zunächst verweigern, wenn auch mit der Folge, dass der Arbeitnehmer dann voraussichtlich Klage beim Arbeitsgericht erhebt. Dort wird der Arbeitnehmer aber auch aufgefordert werden, detailliert zu den Gründen seiner Arbeitsunfähigkeit vorzutragen und, wenn der Arbeitgeber begründete Zweifel an den Erklärungen des Arbeitnehmers aufzeigen kann, Beweis durch Vernehmung der Ärzte einzuholen. Spätestens dann muss der Arbeitnehmer seine Ärzte von der Schweigepflicht entbinden, andernfalls verliert er das Verfahren.

Ähnlich ist die Situation um die sog. Fortsetzungserkrankung. Das ist der in § 3 Abs. 1 S. 2 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) geregelte Fall, wonach Arbeitsunfähigkeitszeiten, die auf derselben Erkrankung beruhen, nur dann nicht zusammengerechnet werden, wenn der Arbeitnehmer vor der erneuten Arbeitsunfähigkeit mindestens 6 Monate nicht infolge derselben Erkrankung arbeitsunfähig war oder seit Beginn der ersten Arbeitsunfähigkeit infolge derselben Krankheit 12 Monate vergangen sind. Dahinter steht der gesetzgeberische Gedanke, dass der Arbeitgeber im Normalfall pro Jahr nur bis zu 6 Wochen Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall leisten soll.

Der Arbeitgeber hat regelmäßig keine Kenntnis darüber, worauf die attestierten Arbeitsunfähigkeiten zurückzuführen sind; dies insbesondere dann nicht, wenn es der Arbeitnehmer geschickt anstellt und, sei es auch wegen ein und derselben Erkrankung, verschiedene Ärzte aufsucht, die untereinander nichts davon wissen, dass wegen derselben Erkrankung schon zuvor eine Arbeitsunfähigkeit von einem anderen Arzt attestiert worden war. Auch in diesen Fällen muss der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber auf Anforderung mitteilen, weshalb keine Fortsetzungserkrankung vorgelegen hat, also die Ursachen seiner Arbeitsunfähigkeit offenlegen. 

Wie für Arbeitgeber in derartigen Fällen zu verfahren ist, können Sie den auf unserer Website vorgehaltenen Mustertexten zum Individualarbeitsrecht entnehmen.

 


 
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